Sind wir doch mal ehrlich: Wir leben in einer Zeit, in der fast alles möglich ist. Wir können sagen, was wir wollen. Wir können reisen, wohin wir wollen. Wir können kaufen, was wir wollen. Aber wer sind wir eigentlich? Wir, das sind die, die zum überwiegenden Teil auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Aber zu uns gehören auch diejenigen, die nicht tun und lassen können, was sie wollen. Weil sie ein Handicap haben. Weil sie hier fremd sind. Weil sie irgendwann in ihrem Leben die Kontrolle über ihr Konsumverhalten verloren haben. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber für uns hat sie in den letzten Wochen und Monaten einen Tiefgang erfahren, den wir so nicht erwartet hätten.
Dabei fing alles ganz harmlos an. Im Frühjahr 2018 kam René Gaens mit der Frage auf Marnie Willig und Michael Weißflog zu, ob ressourcenmangel auch für Kunden wie die Lebenshilfe arbeiten würde. Er hätte da eine Idee, die er aber noch reifen lassen müsste. Ohne zu wissen, was genau er meint, bejahten wir seine Frage; gespannt darauf, was er wohl vorhatte. Im Juni war es dann soweit: Es gab erste konkrete Gespräche zwischen Katrin Fischer, Bernhard Kelz und René Gaens, denen im September ein Treffen in Pirna folgte. Es war ein sonniger Tag, an dem wir uns in der Geschäftsstelle des Lebenshilfe Pirna-Sebnitz-Freital e. V. in kleiner Runde zusammenfanden. René Gaens als Initiator und Fotograf; wir als Vertreter der Agentur sowie die entscheidenden Köpfe der Lebenshilfe als Auftraggeber – soweit, so unspektakulär. Wir hörten zu, wie wir das immer tun: interessiert und aufmerksam. Wir lasen zwischen den Zeilen. Wir wollten erfahren, wie wir der Lebenshilfe helfen konnten. Fachkräftemangel war eines der Themen, über die wir sprachen. Ein Problem, mit dem viele unserer Kunden kämpfen. Dem könnte man mit einer Arbeitgeber-Kampagne ein wenig Abhilfe schaffen. Das ist nicht einfach, aber machbar. Für uns vor allem nichts Unbekanntes. Doch das Blatt wendete sich, als es nicht mehr nur um Fachkräfte ging. Sondern um gesellschaftliches Engagement. Um Menschen, die ihre Zeit denen zur Verfügung stellen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen, wie Ralf Thiele es so schön formuliert. Und um Teilhabe in ganz praktischer Form. Um den Besuch eines Cafés oder Restaurants. Um die Nutzung des ÖPNV. Um Ausflüge zu Sehenswürdigkeiten in der Region. Also um Dinge, über die wir uns in unserem Alltag selten einen Kopf machen. Einfach aus dem Grund heraus, weil sie für uns keine besondere Herausforderung darstellen. Das ist für Klienten, Betreute und Mitarbeiter der Lebenshilfe anders, wie wir erfahren mussten. Man solle doch bitte an einem Tag ins Café kommen, an dem weniger los ist. Oder sich im Restaurant vorher anmelden. Man solle Sonderbusse bestellen, statt den ÖPNV herauszufordern. Wir trauten unseren Ohren kaum. Wir verstanden, was René all die Zeit umtrieb. Wir sicherten unsere Mitarbeit zu. Wir wurden Teil der Geschichte. Wir wurden Teil der Geschichte.
Noch auf dem Rückweg versuchten wir, erste Ideen zu formulieren. Erfolglos. Zu sehr beschäftigte uns all das Gesagte, all das Gehörte. Über die Phase der Fassungslosigkeit, in der wir uns noch befanden, schien René zu diesem Zeitpunkt bereits hinweg zu sein. Eindrucksvolle, ausdrucksstarke Fotos von Mitarbeitern der Lebenshilfe müssen es werden – so sein Plan. Daran, dass er Menschen brillant in Szene setzen kann, bestand zu keiner Zeit auch nur der leiseste Hauch eines Zweifels. Nicht umsonst greifen wir in Projekten immer wieder gern auf seine Expertise zurück. Vor allem dann, wenn es um knifflige Jobs geht. Diesmal aber lag der Ball bei uns. René hatte seine Hausaufgaben bereits gemacht, hatte eine Bildsprache im Kopf. Uns hingegen fehlten mehr oder minder noch die Worte. Wir mussten unsere Gedanken noch sortieren. Alles sacken lassen, eine Nacht drüber schlafen. Dann konnten wir formulieren, was uns die Sprache verschlug. Konnten benennen, was den Fachkräftemangel verstärkt und ehrenamtliches Engagement mindert: Mangelnde Anerkennung und fehlende Wertschätzung.
Während wir Erzählungen aus vielen Berufsbildern mit „krass“, „beeindruckend“ oder „das könnte ich mir auch gut vorstellen“ kommentieren, haben wir für Berufe im sozialen Bereich oft nur ein „ich könnte das nicht machen“ übrig. Doch genau hier liegt das Problem: Wer möchte schon einen Job machen, von dem alle sagen, dass sie ihn nicht machen könnten? Wer entscheidet sich für einen Job, bei dem von vornherein klar ist, dass er nicht nur anstrengend und fordernd, sondern auch in den seltensten Fällen fürstlich entlohnt wird? Eine Arbeitgeber-Kampagne erschien uns angesichts dieser Umstände absurder denn je. Doch was also tun? Wie können wir es schaffen, Menschen zumindest zum Nachdenken, bestenfalls zu persönlichem Engagement zu bewegen? Mit Tiefgang, klar. Doch wie sollte das funktionieren? Mit eindrucksvollen Bildern, auch klar. Gern auf großen Plakatwänden in der ganzen Region sichtbar für alle. Aber das alleine reicht nicht, das wissen wir aus unserer täglichen Arbeit. An kernigen Botschaften führte kein Weg vorbei.
Vor allem aber authentisch sollten, nein mussten, sie sein. Und damit zwingend von den Protagonisten selbst stammen. Also erweiterten wir die Idee des Fotoshootings um die Komponente „Interview“.
Alle Termine in einer Woche – der Zeitplan war straff. Während René neun Mal zur richtigen Zeit den Auslöser seiner Kamera drücken musste, mussten wir neun Mal aufmerksam zuhören und kluge Fragen stellen. Mit diesem Plan sind wir Mitte November in dieses Projekt gestartet. Sind in Einrichtungen der Lebenshilfe gewesen und haben Einblicke in eine uns doch fremde Welt erhalten. Geplant waren neun Interviews. Stattgefunden haben neun intensive Gespräche. Wir hörten Geschichten, die uns bewegt haben. Wir haben gemeinsam geweint, wir haben gemeinsam gelacht, wir haben gemeinsam Ursachen und Gründe gesucht. Nach einer Woche waren wir zurück im Büro und haben uns ausgetauscht. Über die Geschichten, die wir gehört haben. Über die Gedanken, die uns während der Gespräche durch den Kopf gegangen sind. Über die Menschen, mit denen wir gesprochen haben. Wir sprachen über unsere Gespräche mit – Ladies first – Martina Seifert, Swetlana Jeron, Stefanie Rittig und Elisabeth Wünschmann. Mit Ralf Thiele, Burkart Preuß, Konrad Kliemank, Marcus Göhler und Andreas Schimkat. Jeder von ihnen hatte seine ganz eigene Geschichte zu erzählen. Doch immer ging es um Herausforderungen, um Niederlagen, vor allem aber um Glücksmomente. Diese Geschichten auf einen, vielleicht zwei Sätze zu kürzen, erschien uns unverantwortlich. Also beschlossen wir, ihre Geschichten weiterzuerzählen. Wir wollten anderen Menschen die Chance geben, die selben Erfahrungen zu machen, die wir gemacht haben. Zu hören, was wir gehört haben. Und sich anschließend selbst zu reflektieren. Was wäre dafür besser geeignet gewesen als ein Buch? Geplant waren neun Interviews. Stattgefunden haben neun intensive Gespräche.
In neun Kapiteln nehmen wir die Leserinnen und Leser mit in eine Welt, die sonst eher verborgen bleibt. Nicht, weil das ausdrücklicher Wunsch der Mitarbeiter der Lebenshilfe ist, sondern weil die Berührungspunkte in unserer heutigen Zeit weniger geworden sind. Und genau hier wartete die nächste Herausforderung auf uns. So schön und lesenswert ein Buch sein mag: Wenn es seine Leser nicht erreicht, ist es das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Wie also machen wir die Gesellschaft auf das Buch, stellvertretend für das Thema, aufmerksam? In der Hoffnung, dass sie nochmal einen von uns bisher nicht gedachten Ansatz einbringen, trafen wir uns mit den Kollegen von CROMATICS. Sie begreifen die Welt als Spielplatz und schreiben das nicht nur so auf ihre Website, sondern machen für internationale Kunden immer wieder Ernst. Jeder, mit dem wir in den letzten Wochen und Monaten gesprochen haben, hat seinen Teil zu diesem Projekt beigetragen.
Inwieweit sie uns mit unserem sehr regionalen Anliegen unterstützen können, wussten weder sie noch wir. Und dennoch saßen wir eines Abends bei Chips und Bier zusammen. Wir hatten unsere Ideen, Ausdrucke von Renés Bildern und Textfragmente der Geschichten im Gepäck. Wir zeigten ein Bild und lasen einen Auszug vor. CROMATICS hörte zu. Das Bild des Protagonisten habe sich während des Lesens verändert, kommentierten sie. Wir waren also auf dem richtigen Weg. Die Idee, die Großflächenplakate mit Murals nochmals eine Nummer größer zu machen, begruben wir noch an diesem Abend. Pirna ist eben nicht Berlin, Sebnitz nicht Düsseldorf und Freital nicht Hamburg. Stattdessen gingen wir mit dem Gedanken einer Lichtprojektion nach Hause. Und mit einem Kontakt in der Tasche, der das realisieren könnte. Rund drei Wochen später saßen wir mit ihm im Dresdner Kraftwerk Mitte zusammen und erklärten, was wir vorhaben. Abermals mussten wir feststellen, dass Pirna nicht Berlin, Sebnitz nicht Düsseldorf und Freital nicht Hamburg ist. Denn um Lichtprojektionen wirkungsvoll zu inszenieren, muss es dunkel sein. Im Sommer – unserem geplanten Kampagnenzeitraum – ist es das erst spät. Zu spät, um noch Menschen zu erreichen. Also begruben wir auch diese Idee.
Was von ihr jedoch blieb, war der Ansatz einer bewegten, multimedialen Ausstellung. Wir waren begeistert von dem Gedanken, die Bilder und Texte dahin zu bringen, wo Menschen sind. Dahin, wo tatsächliche Inklusion dringend angeraten ist, aber noch in weiter Ferne liegt. Dahin, wo Touristen und Einheimische gleichermaßen schöne Tage verbringen, aber Menschen mit Einschränkungen nur beschwerlich hinkommen. Also bringen wir nun die Geschichten und Bilder in einer übergroßen Ausstellung auf die Straße; in die Region. Um ein audiovisuelles Erlebnis schaffen zu können, mussten wir uns nun allerdings auf die Suche nach einem Synchronsprecher machen. Wir stellten unser Vorhaben in einer entsprechenden Facebook-Gruppe vor. In der Hoffnung, dass sich einer der dort vertretenen Sprecher meldet. Wir suchten einen, fanden insgesamt 13. Das eröffnete uns abermals neue Möglichkeiten: Jede Geschichte konnte von einem Sprecher eingelesen werden. Auszüge daraus sollten bei der mobilen Ausstellung zu hören sein, der komplette Text zum Lesen und Hören auf einer eigens für die Kampagne eingerichteten Website. Bis zum Podcast und einem E-Book war es konzeptionell nur ein kleiner Schritt. Doch in der Umsetzung ohne die Unterstützung der vielen Beteiligten nicht möglich.
Jeder, mit dem wir in den letzten Wochen und Monaten gesprochen haben, hat seinen Teil zu diesem Projekt beigetragen. Durch persönliches Engagement, das in Großteilen in der Freizeit stattfand. Durch kluge Gedanken und clevere Ideen, die dem Projekt in Summe eine Dynamik verliehen haben, die anfangs nicht zu erahnen war.
Durch Kontakte und Netzwerke, die wiederum engagiert dabei waren, kluge Ideen und clevere Gedanken hatten oder wiederum jemanden kannten. Uns allen ist es ein Herzensanliegen, mangelnder Anerkennung und fehlender Wertschätzung etwas entgegenzusetzen. Vor allem aber wollen wir die neun Geschichten weitererzählen.
Wir wollen zu Diskussionen anregen, zu ehrenamtlichen Engagement auffordern, uns für die Verbesserung der Rahmenbedingungen einsetzen, den Menschen in der Lebenshilfe eine Stimme geben und sie so laut machen, dass sie auch gehört wird. Wir glauben daran, dass das gelingen kann. Denn sind wir doch mal ehrlich:
Wir leben in einer Zeit, in der alles möglich ist.